LOGO

LITERATUR

Am Klassenziel

Es ist vollbracht:
Er ist am Klassenziel,
Steht stramm und schweigt,
Solang man applaudiert.
(Der Vorgänger in Reihe eins sieht zu,
Die Hände schon im Schoß.)

nachfolger01

Sein Blick, erhoben vom Applaus,
Geht über ihn hinweg,
Ist ganz der Zukunft zugewandt.
Die duftet, lockt und gurrt
Und will gestaltet sein.
Von ihm. Im Winkel seines Mundes
Ein leichtes Schmatzen, ahnbar nur,
Das still nach innen geht.

Da tief in ihm
Regt sich,
Gewinnt Kontur
Und wächst,
Was ihn zum Bubi macht,
Sein Leben lang,
Die Angst vor ihm,
Dem Mahlwerk der Geschichte
nachfolger02nachfolger03
Aus jenem Bilderbuch
Für böse Buben, Tunichtgute:
„Fein geschroten und in Stücken“,
Futter für das Federvieh.
nachfolger04nachfolger05
So will er sich nie erblicken.

Und Lehrer Lämpel
Tief in ihm

nachfolger06
Hebt seine linke Hand,
Nimmt Haltung an, fährt seinen Zeigefinger
Aus, verlangt, erlangt Respekt
Von jenem Guido,
Der da vor ihm steht,
Zum ersten Mal
Im Außenamt und
Fleisch von seinem Fleisch
Und von Gestalt ihm gleich.

 

                                                                                            Martin Jürgens

_________________________________________________

Vorwärts Brüder

Im Frühjahr,
Sagt die Unterschrift*,
Saht Ihr so aus:
Ihr geht,
Sonne von links
Und lange Schatten,
Auf den Betrachter zu,
Als hättet ihr ein Ziel.
Wohin des Wegs im gelben Shirt?
Eilig zur letzten Schlacht?
brüder01
Das Objektiv
In Höhe eures Schritts
Zeigt euren Kampfgeist groß,
Doch euer T-Shirt
In Jamaikas Farben
Sagt, was hier Sache ist.
Ihr selbst.
So seht ihr aus:
Ihr OPEL
Unter OPELS Zeichen
Schreitet aus,
Von Ausschreitungen
Weit entfernt.

Wer gab euch das?
Die Herren** hier?
brüder02
Zogt ihr es gerne an?
Und glaubt ihr, was es sagt?
Ihr seid die Firma, euer Ernst?
Der Inbegriff von allem, was ihr schafft?

Euch wird man schaffen, Brüder.
Hört die Signale doch:
Man pfeift auf euch. Was jetzt?
Ihr pfeift zurück
Und hängt euch Trillerpfeifen um
Am schwarzen Band?
Nicht einmal das:
brüder03
Ausweise baumeln da, plastifiziert.

Viel eingesteckt und nichts gewagt,
Verraten von euch selbst, verwaist,
Habt ihr die Zukunft hinter euch
Und kennt euch selber nicht.
Ihr seid, was man euch sagt:
Entbehrliche, dem Morgenrot entgegen,
Das jetzt Sozialplan heißt.
Die letzte Schlacht? Ein leichter Wind
Aus den Archiven der Partei
Im reichen Faltenwurf der Macht.

Vorwärts und längst vergessen,
Was endlos aus Nächtigem quoll.
Laufet, Brüder, eure Bahn
Vorwärts / Hoch die / Nieder mit
Freudig wie ein Held zum Siegen.
Wer siegt, teilt aus.
Almosen, Hohn, Lob, Brot und Spott.
Seht, euer Bestes wollen sie.
Sie werdens kriegen.

                                                                                       Martin Jürgens

___________
* Süddeutsche Zeitung vom 11. 9. 2009
**in der Mitte v. l. Martin Schulz und Jo Leinen, Europaabgeordnete der SPD

_________________________________________________

Mutter Staat
De profundis

 

"Thema des Tages", Seite 2*:
1 Kanten Brot, 2 Mutterhände,
Die rechte schneidet von dem Laib,
Dem schon halbierten, grad
Eine Scheibe ab. Es krümelt.
9 bleiche Kinderhände strecken sich,
Und greifen zu.
Dicke Ende
Wird es für alle reichen?
Das fragt die Bildlegende bang
Und weiß die Antwort schon:
„So wie…muß auch…“,
Und neue Hoffnung wächst
Aus altem Mangel:
Mutter Natur und Vater Staat
In einer Remedur vereint
Und endlich eins
In Wort und Tat.
Mehr kann nicht sein und werden!

O, Mutter Staat
In Deiner Kittelschürze,
Gesegnet sei, egal wie groß
Der Laib, von dem du schneidest
Ganz eng an deinem Leib,
Aus dem wir kommen,
Allesamt.
Gebenedeit auch er!
Leg, Mutter, all Erbarmen ab,
Schneid ab, teil ein, teil aus,
Alles aus Deinen Händen!
Du weißt: Es wird
Nicht reichen.
Sei streng mit uns
Und gib uns, was uns frommt:
In Deine Hände
Legen wir
Das dicke Ende,
Das noch kommt.

                                                                                                                                    Martin Jürgens

 

________________
* Süddeutsche Zeitung, 16. Juli 2009, S. 2: "Zum Schluss das dicke Ende" von Thomas Öchsner - aus Anlaß der Vorlage des Sozialberichts der Bundesregierung von 2009

_________________________________________________

Am Fuß des grünen Hügels

 

Der Festspielsommer war sehr groß.
Es zu bezeugen ist es da,
Das Paar im Bild,
Das Bild vom Paar,
Am Fuß des grünen Hügels zu Bayreuth*,
Der Welt ein Wohlgefallen
Und sich selbst.

Guthenberg

Mit dünner Brille, dickem Lachen
Karl –Theodor. Er immer
Einen Schritt voraus,
Auch hier und ihr.
Das macht das Gel
Im schwarzen Haar,
Man sieht‘s im leichten Gegenlicht,
Und der Propeller unterm Kinn.

Und Stefanie?
Fängt man von oben an:
Ganz Dekolleté und trägerlos,
Blondiert, beklunkert,
Fäustchen rechts
Und Täschchen in der Linken,
Lutscht sie das Himbeerbonbon,
Das sie ist, von dieser
Hochgeschnallten Taille ab-
wärts, ein reifer Traum in
Leicht geraffter Seide.

Oh Festspielsommer, stolzes Wort,
Vier Silben und ein Sinn:
In Na- und Kultur
Nur noch Schönes,
Das Wahregute inklusive
Und in ein Bild gebannt,
Und das wird so gemacht:
Die Macht in der
Gestalt des Guttenberg
Macht einen Witz
Und lacht bis
Alles lacht
Und KLICK!

Zwei hat es bös erwischt
Am rechten Rand:
Senioren wie von C&A,
Dicht hinterm Absperrgitter,
Sportjacken, Schirm und Plastiktüte.
Der eine sieht zum Guttenberg empor
Und lacht, der andre lacht
In Richtung Kamera.
Viel Zeit bleibt beiden nicht
Und bißchen Spaß muß sein.

So sagt die Sterblichkeit ihr Ja.
So weidet sich die Ohnmacht
An der Macht.
So ruft die Schwäche
Die Versöhnung aus:
Versöhnung satt von hui und pfui,
Von Dosenbier und Veuve Cliquot,
Von Blasenkrebs und Donnerhall,
Von E und U, von hier und da. Oh
Soviel Einigkeit war nie:
Karl Theodor und Onkel Jupp,
Chantal (hier nicht im Bild) und seine Stephanie.

 

                                                                                              Martin Jürgens

_____________
*Karl-Theodor zu Guttenberg mit Ehefrau Stephanie bei der Eröffnung der Festspiele in Bayreuth am 25. Juli 2009

_________________________________________________

    

Der Biedermann und seine Niedrigkeit
Audienz in zwei Bildern*

Zwei Deutsche unter sich
Und sich ganz nah,
Nur 60 Jahre trennen sie:
Der alte Mann in Frauenkleidern
Reicht seine Linke her,
Handrücken oben,
Und lächelt dünn
Und aufgeräumt
Und sieht dem jungen Schwimmer zu.
Der beugt sich tief
Im deutschen Trainingsdreß
Und grinst und küßt
Im nächsten Augenblick,
Was ER ihm reicht,
Den Ring
Am Stinkefinger.

biedermann_rts2-1249210842.jpg

In seiner Linken ist
Die Kappe schon zu sehn.
Die zieht der Pontifex
Im zweiten Bild sich auf
Und lacht.
Sein Mützchen aus dem ersten Bild,
Aus Seide, weiß, Pileolus** genannt,
Ist jetzt man weiß nicht wo.
Der Schwimmer grinst noch immer
Mit leichtem Überbiß.
Und zwischen ihnen beiden
Ein geistlich-weltlich Männerpaar in Schwarz
Ganz in Vergnügen und Applaus vertieft.

46759-Italy_Pope_Swimming_World_Championships_ROM104.jpg

Das war am Ersten im August,
Und in der Sommerresidenz
In den Albaner Bergen
Trat aus den feuchten Mauern des Kastells
Die Trinität der neuen Art:
Die heilige Dreifaltigkeit von
Schwimmsport, Kirche und PR,
Schwer zu begreifen,
Schmierig nah
Auf diesem Bild und jenem.

Nur eine Frage noch:
Wer fickt hier, wird gefickt?
Der Schnösel ihn, Höchstwürden?
Der Papst den Biedermann?
Egal: Wo Christen- und Athletentum
Sich paaren,
Da gibt es einen guten Klang
Und gleich wo, wie und wann.

Ob göttlich oder
Unter aller Sau
Es bleibt ein Letztes nur zu sagen:
„Au!“

______________
* Fotos von der Audienz des Papstes am 1. 8. 2009 in Castel Gandolfo, u. a. für der Doppelweltmeister im Schwimmen, Paul Biedermann aus Halle/Saale
**Der Papst, die Kardinäle und die Apostolischen Nuntii tragen einen Pileolus aus Moiré-Seide (…) Die Farben der Käppchen entsprechen dem üblichen Farbkanon: weiß für den Papst

_________________________________________________



Deutschländer

_________________________________________________

Weihnachten vor 50 Jahren: Zuletzt führt ihn der Weg leicht hinab; er rutscht im frisch gefallenen Schnee, fällt auf den Rücken, verliert seinen Hut. Kinder finden den Toten; die Polizei macht Fotos.
 
Was seit dem Tod Robert Walsers am 25. Dezember 1956 geschah, ist staunenswert und fast beispiellos: Von Jahr zu Jahr wächst der Nachruhm - weltweit.
 
Zu den ersten, die sich intensiv mit Walser befaßten, gehört Martin Jürgens. Dieses Buch versammelt elf seiner Walser-Studien aus 30 Jahren. In ihnen wird eine Haltung versucht, die begriffliche Kraftakte vermeidet, in enger Fühlung mit den Gegenständen ist und doch an Theorie, also an der Bewegung des Denkens, interessiert bleibt.
 
Das entspricht dem Eigensinn der Texte Walsers: Sanft bewegte Leichtgewichte sind es, fern jeder Gattung. Behende führen Walsers "Helden" uns weg von kraftvollen Botschaften und hin zum Entzücken vor der flüchtigen Einzelheit. Sie wissen nicht, wo es langgeht, bauen kann man auf sie nicht; erst recht ist mit ihnen kein Staat zu machen. Das macht ihre Größe aus und unser Glück beim Lesen von Sätzen wie: "Sein Lächeln glich einer Blume, die nach dem Bedürfnis und der Kunst, zu zögern, duftete."

seine kunst zu zoegern

Seine Kunst zu zögern
Elf Versuche zu Robert Walser

Erschienen im Oktober Verlag
ISBN: 978-3-938568-46-0

Rezension in der Frankfurter Rundschau vom 14.2.2007:
 
... wie hier überhaupt eine lebhafte Walser-Lektüre angeboten wird, jenseits von Ordnungsbedürfnissen, aber mit einem schweifenden Ortungssinn für den Eigensinn des Walser-Allerleis. Tuchfühlungsversuche, könnte man sagen, was nicht heißt, dass es nicht auch beherztkräftig zugehen kann: "Die oft gerühmte Leichtigkeit und scheinbare Absichtslosigkeit seiner Prosa, der vagabundierende, flanierende Blick, den sie lehrt, sind Zeichen einer wie selbstverständlich operierenden Desorganisation, eines (wenn man so will) ästhetischen Dekonstruktivismus avant la lettre."

Desorganisation des Daseins, eine diskontinuierliche Erzählweise und Depersonalisierung machen die "Sonderart Walsers" (Robert Musil) aus - und das muss auf diesem Raum reichen als Hinweis, spielt doch überdies und gar nicht von ungefähr das Mimetische in diesem Sekundärbüchlein eine zentrale Rolle, so auch Walsers ausgesprochene Kleist-Gestimmtheit, exemplarisch in seiner Erzählung Kleist in Thun. Wenn auch darin dem Walser-Leser dann und wann eine wohlgemute Stimmung um die Nase geht, so kann alle "heitere Souveränität" ein "klares Unheilsbewusstsein" unmöglich verbergen. Denn das Unmögliche, das es bei Walser immerfort gibt, ist das Tröstliche. Der hoffnungslose Gedankensprung in die katastrophische Bestimmung der Moderne folgt in Jürgens' Aufsätzen einer an Benjamin/Adorno geschulten Perspektive, und assoziiert von Kleist über Büchner über Walser bis hin zu dem schizophrenen Dichter März ein so untröstliches Unbehagen des Ich an seiner Existenz, wie es der Walser-Leser kennt, wenn er etwa im Räuber-Roman auf die Stelle trifft: "Ja, es gibt noch aufwachsende Menschen, die nicht im Handumdrehen mit einer entsetzeneinflößenden Geschwindigkeit mit ihrem Innen- und Außenleben fertig werden, als wären Menschen bloß Semmeln, die man in fünf Minuten herstellt und hierauf verkauft, damit sie verbraucht werden."
 
(Christian Thomas)

_________________________________________________

Manchmal muß man auf den Punkt kommen - erst recht, wenn man schon halb zur Tür raus ist. Wie man das macht, ohne aufzutrumpfen, also so entschieden wie möglich, so vorsichtig wie nötig, zeigen die Essays in Jürgens´ Buch - von Goethes "Fischer" bis zum Spaß auf MTV, von Lenins Mausoleum bis zu den einstürzenden Türmen in New York.

So.
Über das Leben, die Kunst und den Tod

Erschienen im Oktober Verlag
ISBN-Nr.: 3-935792-24-7